So langsam wird es Zeit, an das zu denken, an das niemand denken mag. Nele ist jetzt 13 Jahre alt und an manchen Tagen benimmt sie sich wie die 98-jährige Urgroßmutter, die mit brüchiger Stimme und gekrümmten Rücken ihren Urenkeln Geschichten aus längst vergangenen Tagen erzählt. Während unsere Jungspunde Amy und Sasha flegelhaft alles auf den Kopf stellen, ist Nele ruhig und still.
Gestern
Mir kommt es vor, als sei es erst irgendwann letzte Woche gewesen, als wir ein winziges Bündelchen Hund überreicht bekamen. Die Angst vor uns, unserer Wohnung, unseren Katzen und unserem Jack Russel “Tyson” brüllte uns aus den Augen des kleinen Hundemädchens an. Doch schnell fasste sie Vertrauen und schenkte uns ihr riesiges Hundeherz. Die Anlässe, mit ihr in den letzten 13 Jahren zu schimpfen, lassen sich an einer Hand abzählen. Nele ist eine herzensgute Seele, verpackt unter braunem Fell, purer Liebe in den Augen und vier kurzen Beinchen.
Heute
Sie hat Arthrose im Rücken. Sie bekommt Medikamente und wir geben ihr CBD-Öl. Eines ihrer Augen ist trüb und ihr Gehör musste sich ebenfalls dem Alter unterwerfen. Doch ihre Lebensfreude ist ungetrübt – fein. Sie kann nicht mehr alleine auf das Sofa springen, die Rampe, die wir extra gekauft hatten, mag sie nicht benutzen. Aber wir haben Hände, um sie auf das Sofa zu setzen. Wir haben Augen, um sie genau zu beobachten, um zu sehen, wie es ihr geht. Wir haben ein Herz, das an manchen Tagen weint. An den (bisher wenigen) Tagen, an denen es ihr nicht gut geht. An denen sie nicht Laufen mag. An den Tagen, an denen sie zusammengerollt in ihrem Körbchen liegt. An diesen Tagen zerreist es mir das Herz, denn ich weiß, was kommen wird. Noch sind diese Tage selten, doch sie zeigen mir erbarmungslos die Zukunft.
Morgen
An das, was auf mich zurollt wie eine wegbrechende, tosende Lawine, mag ich nicht denken. Solange die guten Tage überwiegen, darf das kleine Hundeherz so kräftig schlagen, wie es kann. Nele bekommt Medikamente, die sowohl entzündungshemmend- als auch schmerzlindernd wirken. Bei unseren Spaziergängen haben wir jetzt immer den Hundebuggy dabei. Nele darf laufen, sie muss aber nicht, wenn sie nicht mag oder kann. Wir sorgen für Wärme auf dem Rücken. Sie darf liegen, wo immer sie mag. Möchte sie schmusen, schmusen wir mit ihr. Möchte sie schlafen, schläft sie. Außer Fressen – das darf sie nach wie vor nur dann, wenn es Futter gibt. Sie war noch nie dick und das darf sie auch jetzt nicht werden. Jetzt erst recht nicht.
Albert Schweitzer sagte mal: “Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen.” Nele wird große Spuren hinterlassen. In unseren Herzen. Wenn es soweit ist. Noch ist es nicht soweit.
Im Zug
Mich hat eine Passage in einem Artikel sehr bewegt. Darin wird das Leben mit einer Zugfahrt verglichen. Dein Leben beginnt in einem Zug und du denkst, dass deine Eltern bis in alle Ewigkeit mit dir fahren werden. Aber sie steigen irgendwann aus. Geschwister, Verwandte, Freunde, Bekannte und Tiere steigen ein und wieder aus. Mit manchen unterhältst du dich eine ganze Zeit, mit anderen nur kurz. Manche Tiere bleiben lange in deinem Zugabteil, manche steigen nach kurzer Zeit aus. Während ich für einsteigende Menschen häufig nicht sofort Platz mache, springe ich für Tiere, die in mein Abteil kommen, sofort auf, um ihnen den besten Platz zu bieten, den ich finden kann.
Meine Tiere haben sich nie ein anderes Abteil suchen müssen. Sie durften immer mit mir fahren, bis es Zeit war, dass sie aussteigen mussten. Und mit jeder Station füllt sich mein Kontingent der Erinnerungen wie ein Wald, der mit jungen Bäumen bepflanzt wird. Nele fährt schon sehr lange mit. Und hoffentlich bleibt sie noch einige Stationen bei uns.
Verfasst am: 01.06.2020
Autor: Martina Pfannschmidt
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